Petermann Island und der Friedhof der Eisriesen

Ich war dort. Nicht durch eine Karte, nicht durch ein Buch, sondern mit eigenen Augen. Mit klammen Fingern, vom Wind gezeichnetem Gesicht und dem pochenden Herz eines Menschen, der begreift, dass die Welt größer ist, als er dachte.

Es war ein Expeditionsschiff, das uns nach Petermann Island brachte. Ein grauer Koloss mit rostigem Herz, das gleichmäßig unter unseren Füßen schlug. Wir waren eine bunte Truppe: Wissenschaftler, Träumer, Rentner, ein Junge mit Fernglas und Sehnsucht, und ich. Und doch wurden wir alle still, als wir südlich der Insel in jenes Wasser einbogen, das man den Eisbergfriedhof nennt.

Dort lagen sie. Eingekeilt in seichte Strömungen, gefangen auf flachem Grund, festgehalten von der Erde selbst. Die Eisberge, diese schimmernden Kolosse, ragten wie Denkmäler aus der See. Einige aufrecht, stolz, mit scharfen Kanten wie Schwertklingen. Andere gekippt, erodiert, von Wind und Sonne gezeichnet. Ich hatte noch nie gesehen, wie Schönheit so ruhig sterben konnte.

Petermann Island selbst war kleiner, als ich erwartet hatte. Kaum zwei Kilometer lang, ein schiefer Fels, gezeichnet vom Zahn der Zeit. Aber ihre Geschichte war groß. 1873 hatte ein deutscher Walfänger sie entdeckt – Eduard Dallmann. Ein Mann, der sich vermutlich mehr auf den Geruch von Robbenfett als auf große Reden verstand. Und doch benannte er die Insel nach August Petermann, einem Geografen, der nur durch Karten die Welt durchstreifte.

Aber es war Charcot, der mir nicht aus dem Kopf ging. Im Jahr 1909, eingeschlossen vom Eis, verbrachte er mit seiner Mannschaft den Winter auf der Insel. Ich stellte mir vor, wie sie an Bord der Pourquoi-Pas? saßen, als der Lemaire-Kanal gefror. Wie sie Port Circumcision tauften, einfach weil der Kalender es so wollte. Wie sie schrieben, zeichneten, forschten – und hofften, dass der Frühling sie wieder heimließ.

Auf einem kleinen Hügel errichteten sie einen Steinhaufen mit Plakette. Heute steht nur noch eine Nachbildung dort. Aber als ich ihn sah, aus der Nähe, mit dem Wind in den Ohren und dem Salz auf der Haut, kam er mir echter vor als so manches Denkmal in Stein. Dort oben, über dem Eis, flüstert noch immer etwas von Mut, Neugier und Menschlichkeit.

Nicht weit davon entfernt hockten Gentoo-Pinguine zwischen Felsen. Sie stolperten, schnatterten, zankten sich um Nester aus Kieseln. Während hinter ihnen die Eisberge schmolzen wie Kerzen im Morgengrauen. Leben und Vergehen, Seite an Seite.

Am Abend stand ich an Deck. Der Nebel hatte sich gelichtet, das Licht war weich und fast zärtlich. Ich sah den Friedhof noch einmal. Und plötzlich spürte ich nicht mehr Kälte, nicht Wind – sondern Dankbarkeit. Dafür, dass ich dort war. Dass ich Zeuge sein durfte, wie Eis Geschichten erzählt, ohne ein einziges Wort.

Denn manche Orte sind keine Reise. Sie sind ein Kapitel. Und Petermann Island, mit ihren Eisriesen, war eines, das ich nie vergessen werde.

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