Horseshoe Island – Der gebogene Rücken der Stille

Man muss nicht alt sein, um sich alt zu fühlen. Es reicht, auf Horseshoe Island zu stehen, irgendwo tief unten in der Antarktis, mit nichts als dem Wind im Ohr und Schnee unter den Stiefeln. Dann begreift man schnell, wie klein man ist, und wie groß die Welt einmal gewesen sein muss, bevor wir sie zu berechnen begannen.

Wir kamen an einem Nachmittag dort an, wenn man das so nennen kann in einem Land ohne Zeit. Alles war Licht, aber ohne Wärme, Farbe, aber ohne Trost. Die Insel lag da wie ein vergessenes Fossil, in sich gekrümmt, als wollte sie sich selbst umarmen gegen die Kälte. Und da begriff ich, warum sie so heißt, wie sie heißt.

Die britische Graham-Land-Expedition unter einem gewissen John Rymill hatte sie 1936 entdeckt – ein Mann mit Mut, Kartensinn und einem guten Blick für Formen. Vom Land und aus der Luft hatte er sie vermessen. Und was er sah, war ein Hufeisen: eine halbgeschlossene Mondsichel aus Bergen, die sich aufrichteten wie alte Wirbeltiere – 600 bis 900 Meter hoch. Als hätte die Erde selbst einen Schutzkreis gezogen gegen das Vergessen.

Ich stand auf dem Grat eines dieser Berge und blickte hinunter auf die verlassene Forschungsstation am Ufer. Eine Hütte aus Holz, verloren im Eis. Da und dort ragten Funkantennen wie rostige Nadeln in den Himmel. Es war still, aber nicht tot. Nichts ist wirklich tot in der Antarktis – es schläft nur tiefer.

Ich dachte an Rymill. Wie er wohl dort stand, vor fast hundert Jahren, mit gefrorenem Atem, Notizbuch in der Hand und dem Gefühl, dass die Welt noch Geheimnisse hatte. Keine Satelliten, keine Drohnen, kein GPS. Nur Neugier, Mut – und eine Insel, die aussah wie ein Hufeisen im Schnee.

Später, als wir wieder an Bord unseres Schiffs kletterten, drehte ich mich noch einmal um. Horseshoe Island lag hinter uns, als wollte sie verschwinden, kaum dass wir sie verlassen. Und doch nahm ich etwas mit. Etwas Schweres, das kein Foto trägt und kein Tagebuch festhält.

Vielleicht war es Ehrfurcht. Vielleicht auch einfach Dankbarkeit dafür, dass es Orte gibt, die sich nicht ändern, bloß weil wir sie vermessen haben.

Orte, die uns nicht beeindrucken wollen – aber es trotzdem tun.

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