Graffiti-Beach – Ein Ausflug an den Rand der Erinnerung

Die Arktis hat viele Gesichter. Die meisten sind weiß, leer, und sprechen wenig. Einige jedoch sagen mehr, als man ihnen zutraut – vorausgesetzt, man hält still, hört zu und schaut lange genug hin. So erging es mir im Sommer des Jahres 2023, als ich auf einer Fahrt mit der Hanseatic Inspiration auf einem kleinen, windumspielten Felsen landete, der auf den Karten den Namen Chermsideøya trägt, aber vor Ort nur unter einem anderen bekannt ist: Graffiti-Beach.

Das klingt aufregender, als es zunächst scheint. Es gibt dort keine Wände, keine Spraydosen, keine Kunststudenten mit Visionen. Es gibt nur Geröll, Moos, Wind und eine Bucht, die nicht einmal ein Strand ist, sondern einfach ein Ort, an dem das Meer sich kurz ausruht, bevor es weiter gegen Felsen schlägt. Und doch ist dies ein Ort der Botschaften. Nicht für das Auge des Wanderers, sondern für das der Möwe, des Eisbären – oder, realistischer, der Drohne.

Denn die Inschriften, die Graffiti von Graffiti-Beach, sind nicht gemalt, nicht gemeißelt, sondern aus Steinen gelegt. Groß, rau, wettergezeichnet. Vom Boden aus sind sie unsichtbar. Man steht darauf, ohne es zu merken. Es ist ein seltsames Gefühl, so auf Worten zu laufen, ohne sie zu sehen.

Die älteste dieser Botschaften besteht aus nur einem Namen und einer Jahreszahl: Jäderin, 1898. Man muss diesen Namen nicht kennen. Ich tat es zunächst auch nicht. Doch später las ich, dass Edvard Jäderin der Leiter der schwedischen Sektion einer jener Expeditionen war, von denen man in Geographievorlesungen bestenfalls noch Fußnoten findet: der Swedish–Russian Arc-of-Meridian Expedition.

Zwischen 1899 und 1902 zogen Schweden und Russen gemeinsam los, um die Erde zu vermessen. Nicht metaphorisch, sondern buchstäblich. Sie wollten herausfinden, wie rund oder platt unser Planet tatsächlich ist – indem sie entlang eines Längengrades, also eines Meridians, Winkel maßen. Auf Spitzbergen, in Sibirien, über Monate und Jahre. Sie lebten im Eis, maßen mit Theodoliten, schrieben in Notizbücher, froren an Fingern und Ideen. Es war eine Wissenschaft voller Geduld, voller Zahlen, voller Kälte.

Dass Jäderins Name heute noch auf dieser windigen Insel liegt, aus Steinen gesetzt, spricht für etwas anderes als bloßes Vermessen. Es spricht von dem menschlichen Bedürfnis, eine Spur zu hinterlassen. Selbst hier. Oder gerade hier.

Neben dem Namen Jäderin liegt ein anderes Wort. Es ist in kyrillischen Buchstaben gelegt und lautet Krassin. Auch das eine Spur. Krassin war der sowjetische Eisbrecher, der 1928 die überlebenden Männer der Nobile-Expedition rettete. Diese hatten nach dem Absturz ihres Luftschiffs wochenlang auf Eisschollen in der Nähe getrieben, halb verloren, halb vergessen. Dass jemand später an diesem abgelegenen Ort den Namen des Schiffes aus Steinen legt, ist keine Laune. Es ist Erinnerung in rohem Material.

Und dann ist da noch ein weiteres Symbol. Weniger erfreulich. Weniger eindeutig zu deuten. Es ist ein Hakenkreuz, ebenfalls aus Steinen gelegt. Niemand weiß, wer es dort hingelegt hat. Vielleicht ein Schiff der nationalsozialistischen Freizeitorganisation Kraft durch Freude, das in den 1930er Jahren diese Gegend bereiste. Oder vielleicht war es das deutsche U-Boot, das 1944 die Mannschaft der Wetterstation Haudegen aussetzte. Dieses U-Boot kam durch die Region, aber der Expeditionsleiter Wilhelm Dege erwähnte in seinem Bericht keine Landung auf Chermsideøya. Und sein Bericht erwähnte sonst alles.

Was man aber weiß: Das Symbol wurde mehrfach zerstört und wieder aufgebaut. Ein stiller Konflikt, geführt aus Steinen, mit der Arktis als Zeugin. Und vielleicht ist das das Erstaunlichste an diesem Ort. Dass sich selbst hier, auf einem gottverlassenen Felsen nördlich der Welt, Ideologien in den Boden graben.

Ich habe von alldem nichts gesehen. Mein Bild zeigt nur die Bucht. Kein Hakenkreuz, kein Jäderin, kein Krassin. Nur Steine, Wasser, Horizont. Aber ich weiß, was unter meinen Füßen lag, als ich es aufnahm. Ich weiß, dass unter dieser scheinbar leeren Landschaft Worte verborgen sind, Namen, Zeichen. Nicht sichtbar, aber spürbar.

Graffiti-Beach ist kein schöner Ort. Aber ein ehrlicher. Ein Ort, an dem Geschichte schweigt – und sich dennoch zeigt, wenn man sie lässt.

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